An einem grauen Novembertag längst vergessener Zeit schreibe ich eine Liste.
Es ist das Jahr meiner ersten Bildungskarenz. Weil ich so glücklich bin, nenne ich die Liste "beste Entscheidungen meines Lebens".
Ich beginne mit "Informationsmanagement studieren" und "Auslandssemester in Finnland". Dann überlege ich. Welche Entscheidungen haben mein Leben noch geprägt? Ich schreibe: "Umzug nach Wien" und "User Experience Management studieren".
Es ist eine Liste, zu der ich über die kommenden Jahre immer wieder zurückkehren werde. Wenn ich sie lese, denke ich "ich bin privilegiert" oder "was für ein Leben".
Im selben Jahr füge ich der Liste "in Bildungskarenz gehen" hinzu.
Down Under #
Ich bin unausgeglichen. Ich bin unentschlossen. Ich bin unzufrieden. Ich komme nicht klar. Wie lässt sich das Reisen mit dem Alltag vereinbaren? Ich bin in Australien, verdammt! Down Under. Ich sollte doch glücklich sein.
Vivien und Simon hatten angeboten, dass wir unser Lager in Manly aufschlagen und ein paar Tage bei ihnen verbringen. Wir könnten den Norden Sydneys entdecken. Bis nach Palm Beach hochfahren. Surfen gehen.
Doch ich suche einen Ausweg aus meiner Reisedepression. Ich muss wieder zu mir finden.
Woolwich #
Wenn man vom Circular Quay aus eine Fähre nimmt, liegt genau in entgegengesetzten Richtung zu Manly ein Ort namens "Woolwich". Nur eine zwanzigminütige Fährenfahrt später und man genießt angenehme Langeweile.
Weit weg vom Großstadtlärm von Green Square, den Touristenmaßen des Sydney Harbours und den coolen Surfermenschen von Manly finde ich zu mir.
Ich verspüre Vorstadtgefühle aber auch den Hauch einer gehobenen Gegend. Hier gibt es schöne Anwesen vor denen hochwertige Fahrzeuge parken. Die Fähre, die gegen Ende des Tages am Kai eintrifft, liefert Männer in Anzügen und Frauen in Blusen ab.
Sie steigen in ihre teuren Autos bevor sie sich in der Langeweile der Vorstadt verlieren.
Pause in Down Under #
Suchst du Pause nach einer langen Reise?
Suchst du Ruhe und Abgelegenheit?
Komm nach Woolwich!
Wenn es nach mir geht, könnte das der offizielle Slogan des kleinen Ortes sein.
Vom Satthören und Sattsehen #
Vorm Fenster unserer Unterkunft nisten Papageien. Ihre Laute sind uns fremd. Obwohl uns diese Geräusche seit der Ankunft in Athen begleiten, kann ich mich nicht daran satthören.
Die Vorstadt ist ruhig. Woolwich wirkt abgeschieden. In einer Bucht schlummern kleine Boote ganz im Sinne der Verschlafenheit des Ortes. "Kein Tourist dieser Welt würde je auf die Idee kommen, hier herzufahren", denke ich.
Der Halbmond steht hoch am Himmel. Man sieht nur den oberen Teil des Erdtrabanten. Sein Anblick ist uns fremd. Obwohl uns dieses Bild seit Singapur begleitet, kann ich mich nicht daran sattsehen.
Wir spazieren den Hügel hinauf und entdecken ein Lokal. "Woolwich Pier" steht auf dem Schild.
Wir trinken Campari Soda. Wir trinken Bier.
Wir sind glücklich hier.
Ein Hoch auf die Vorstadt! #
Am nächsten Tag entscheiden wir uns gegen eine Fahrt nach Sydney. Wir entscheiden uns gegen den Trubel. Stattdessen nehmen wir die Fähre ins langweilige Balmain. Die Vorstadt lässt uns nicht los.
Im Supermarkt kaufen wir Gemüse, Reis und Haferflocken. Das Café ist gleichzeitig eine Weinhandlung. Wir entdecken österreichischen Wein aus der Wachau.
Am Nachmittag, zurück in Woolwich, geht Sophia spazieren. Ich radle hinterher. Ich lade sie zu einem gemeinsamen Radausflug ein. Als wir realisieren, dass Woolwich die Straße hinauf nur noch langweiliger wird, brechen wir ab. Wir sind kurz davor, zurück nach Hause zu fahren.
Doch dann sehen wir erneut das Schild. "Woolwich Pier", steht dort.
Heute sind wir schlau genug anstatt zwei großen Bier, einen Krug zu bestellen. Mehr Fassungsvermögen für einen geringeren Preis.
Wir sind glücklich hier.
Cockattoo Island #
Wenn man die Fähre in die andere Richtung nimmt, gibt es noch eine Station. Der Name der Insel ist irreführend. Hier lebt kein einziger Kakadu.
Cockattoo Island war einst eine Gefangeneninsel für Schwerstverbrecher. Da Australien selbst als Sträflingskolonie des britischen Königreichs im 18. Jahrhundert diente, ist Cockattoo Island eine Gefangeneninsel auf einer Gefangeneninsel.
Später wurde die Insel für den Schiffsbau genutzt, bevor sie dann zur Mädchenschule wurde, nur um danach wieder zur Gefangeneninsel zu werden. So eine Geschichte kann man nicht erfinden.
Am Nachmittag, zurück in Woolwich, geht Sophia zum Strand. Ich radle hinterher. Mir fällt ein Schild auf, das vor blaugeringelten Kraken warnt. Sie verfügen über ein starkes Nervengift. Beißen sie zu, kommt es innerhalb von zwei Stunden zu Lähmungen, was kurz darauf zum Atemstillstand und Tod führen kann.
Könnte das die Gelegenheit sein, endlich ein tödliches Tier in Australien zu sehen?
Ich zweifle kurz an der Seriosität der Behörden, wird vor diesem gefährlichen Tier nämlich mittels Cartoon-artiger Abbildung gewarnt. Das todbringende Lebewesen wird verniedlicht.
Am Weg nach Hause wirkt ein gewisses Lokal sehr einladend. Ihr wisst, welches Lokal ich meine. Woolwich Pier hat uns wieder. Wir setzen uns auf unseren Stammplatz und machen, was wir immer tun.
Wir sind glücklich hier.
Die beste Entscheidung meines Lebens #
Entscheidungen machen uns zu den Menschen, die wir sind. In meinem Fall gibt es nicht die eine beste Entscheidung.
Dieses Jahr füge ich eine weitere Entscheidung meiner Liste hinzu: "Auf Weltreise gehen". Dieses Jahr denke ich: "Ich bin privilegiert" oder "was für eine Reise". Genauso gut könnte ich gerade in einem Büro sitzen, mich über Kunden ärgern und unglücklich sein.
Aber das heißt auch nicht, dass es mir dieses Jahr durchwegs gut gehen muss. Hin und wieder braucht man einfach Pause. Hin und wieder braucht man einfach Vorstadt. Hin und wieder braucht man einfach Woolwich.
Auf diese Weltreise zu gehen zählt bereits heute zu den besten Entscheidungen meines Lebens.
Und eine Pause in Down Under ist genau die Gelegenheit, sich diesem Privileg wieder einmal bewusst zu werden.